Foto: Jorge Silva/Reuters |
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Venezuela
Professoren betteln um Lebensmittel
Seit die autoritäre Regierung von Präsident Nicolás Maduro Venezuela in eine Wirtschafts- und Versorgungskrise gestürzt hat, geraten auch immer mehr Professoren in existenzielle Not.
Viele von ihnen gehören zu den 94 Prozent der Venezolaner, die laut einer Studie der katholischen Andrés-Bello-Universität (UCAB) in Armut leben. 76 Prozent der Bevölkerung befinden sich sogar in einer extrem existenzbedrohenden Situation und müssen mit weniger als 1,20 Dollar (1,20 Euro) pro Tag zurechtkommen. Dazu zählen auch immer mehr Menschen der einst gehobenen Mittelschicht. Im Februar rief eine Professorenvereinigung der Zentraluniversität (UCV) zu einem nationalen Protesttag auf, um die Hungerlöhne der Professoren anzuprangern. „Die Zerstörung der Wissensgesellschaft bedroht die Zukunft des Landes“, sagte damals Víctor Präsident der UCV-Professorenvereinigung. Als die Erdölvorkommen Mitte des vergangenen Jahrhunderts immer
mehr Geld ins Land spülten, wurde intensiv in Universitäten investiert. Das änderte sich mit dem 1998 zum Präsidenten gewählten Hugo Chavez. Für seine Regierung waren Universitäten Orte der Opposition, deren kritisches Fortschrittsdenken unterdrückt werden musste. Von da an ging es bergab mit akademischen Einrichtungen. Nicht nur die Bauten verkommen zunehmend; Professoren und das Verwaltungspersonal erhalten Niedriglöhne, die kaum zum Leben reichen. Wie groß das Ausmaß ihrer Notsituation ist, zeigt eine Umfrage der UCV: Die Mehrheit der befragten Lehrkräfte gibt an, innerhalb eines Jahres ungewollt Gewicht verloren zu haben, teilweise bis zu neun Kilo. Fast die Hälfte sieht sich gezwungen, Angehörige um Lebensmittel zu bitten und regelmäßig Mahlzeiten ausfallen zu lassen.
Steigende Unzufriedenheit
Die Abhängigkeit von einem Rohstoff wurde Venezuela zum Verhängnis: Als 2014 die Erdölpreise sanken, fehlte dem Staat das Geld, um impor- tierte Waren zu bezahlen. Die Folge: Engpässe in den Supermarktregalen und eine Hyperinflation. 2018 betrug die Inflationsrate 130 000 Prozent, ein dramatischer Weltrekord. Der venezolanische Bolívar verlor rasant an Wert. 2019 hat die Regierung die Wirtschaft dollarisiert und damit die Situation etwas entschärft – zumindest für die Privatwirschaft, die nun ihre Produkte in Dollar verkauft. Im öffentlichen Sektor, dem die meisten Universitäten angehören, änderte sich nichts. Die bereits ohnehin niedrigen Gehälter der Professoren erreichten ihren Tiefpunkt. Im vergangenen Jahr betrug die Inflation immer noch rund 1600 Prozent. Bis Februar dieses Jahres lag der Mindestlohn bei zwei Dollar im Monat. Im März erhöhte ihn die Regierung um das 14-Fache, koppelte ihn aber an die venezolanische Kryptowährung Petro, was den Lohn- wert instabil macht. Der monatliche Mindestlohn beträgt nun einen halben Petro, das entspricht rund 30 US-Dollar (30 Euro). Die Lebensumstände haben sich für die Menschen aber nicht verbessert. Im Gegenteil: Die Unzufriedenheit wächst. Im ersten Quartal 2022 fanden insgesamt 700 Arbeiterproteste statt, über ein Viertel mehr als im selben Zeitraum des Vorjahres.
Text: Pia Scheiblhuber
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