Schwes­ter An­na mit Dorf­be­woh­nern

Blick­wech­sel

Was ist Wahr­heit?

Ich zähl­te Joa­na zu mei­nen Freun­din­nen. Wir wa­ren gleichal­t­rig, aber sonst trenn­ten uns Wel­ten – sie kam aus ei­nem ab­ge­le­gen Dorf in den Ber­gen Pa­pua Neu­gui­neas, war Mut­ter und Bäue­rin. Wir hat­ten uns bei ih­rer Aus­bil­dung zur Ka­te­chis­tin ken­nen ge­lernt, wo ich ei­ni­ge Ein­hei­ten un­ter­rich­te­te. Nun saß sie mit Trä­nen in den Au­gen vor mir, und ich hielt Ge­richt über sie: „Du hast ge­sagt, dass du Geld für dein kran­kes Kind brauchst, und ich gab es dir. Jetzt hö­re ich von an­de­ren, dass du es für et­was an­de­res aus­ge­ge­ben hast. Du hast mich sehr ent­täuscht.“ Joa­na sah mich trau­rig an: „Ich brauch­te Geld, um mei­nen Bei­trag zur Be­er­di­gung un­se­res Nach­barn bei­zu­steu­ern. Das ist un­ser Brauch. Aber ich weiß, dass ihr wei­ßen Mis­sio­na­re da­für kein Geld gebt. Al­so ha­be ich dir ei­nen Grund ge­nannt, der für dich ak­zep­ta­bel ist: ein kran­kes Kind.“ Und dann, fle­hend: „Ver­stehst du mich denn nicht? Un­se­re Freund­schaft ist mir wich­tig. Ich will nicht, dass ein Miss­ver­ständ­nis we­gen Geld da­zwi­schen kommt.“ Ich war per­plex: mich an­lü­gen um un­se­rer Freund­schaft wil­len? Für mich be­deu­tet Freund­schaft, ein­an­der ver­trau­en zu kön­nen und da­zu ge­hört, ein­an­der die Wahr­heit zu sa­gen. Doch dann leg­te sich in mei­nem Den­ken ein Schal­ter um, und für ei­nen Au­gen­blick sah ich die Welt mit Joa­nas Au­gen. Und ich war be­schämt: Für mich ist Wahr­heit Treue zu Fak­ten. Wahr­heit be­deu­tet für sie die Treue zur Freund­schaft. Aus Ver­ständ­nis für mein Un­ver­ständ­nis ih­rer Kul­tur hat­te sie mir das ge­sagt, was ich ak­zep­tie­ren kann. Das war ih­re Art, mich zu re­spek­tie­ren. „Was ist Wahr­heit?“ fragt Pi­la­tus bei der Ge­richts­ver­hand­lung ge­gen Je­sus. Da­bei stand sie vor ihm, die Wahr­heit in Per­son. Wahr­heit ist kein Sach­ver­halt; Wahr­heit ist ein Mensch. Dan­ke, Joa­na!

Zur Per­son

Schwes­ter An­na Da­mas, 54, Stey­ler Mis­si­ons­schwes­ter, ar­bei­te­te 13 Jah­re in der Ka­te­chis­ten­aus­bil­dung und der Bi­bel­pa­s­to­ral in Pa­pua-Neu­gui­nea. Seit 2019 en­ga­giert sie sich in der Aus­bil­dung der jun­gen Schwes­tern in Rom und forscht zur Grün­de­rin­nen-Ge­ne­ra­ti­on ih­res Or­dens.

Text und Fo­to: An­na Da­mas

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