Wie wollen wir sterben?Die Frage ist heikel und spaltet Parteien und Kirchen: Darf Beihilfe zum Suizid erlaubt werden
und wenn ja, unter welchen Bedingungen? Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts eröffnete
2020 eine emotionale Debatte und zwingt den Gesetzgeber zu handeln. |
Im Kern geht es um die uralte Frage nach Freiheit und Selbstbestimmung, mit der sich Religion und Philosophie beschäftigen, seit es sie gibt. Wie weit reicht die Autonomie des Menschen und wo sind ihre Grenzen? Umfasst sie auch das Recht, sich das Leben zu nehmen und Dritte dabei um Hilfe zu bitten? Das Bundesverfassungsgericht sagt „Ja“ und hat den Gesetzgeber vor die schwierige Aufgabe gestellt, den assistierten Suizid juristisch neu zu regeln.
In ihrem Urteil vom 26. Februar 2020 erklären Deutschlands oberste Richter, das grundgesetzlich garantierte, allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasse auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Danach darf jeder Mensch ein tödliches Medikament, das ihm zur Verfügung gestellt wird, selber einnehmen. Aktive Sterbehilfe, also Tötung auf Verlangen, hingegen bleibt weiter verboten.
Katholische und evangelische Kirche reagierten prompt und einträchtig. Noch am selben Tag veröffentlichten sie eine gemeinsame Erklärung, in der sie das Urteil als „Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur“ kritisieren. Sie warnen, je einfacher es sei, Hilfe zum Suizid zu erhalten, desto eher könnten sich alte oder kranke Menschen gedrängt fühlen, ihrem Leben vorschnell ein Ende zu setzen – eine Gefahr, auf die auch die Verfassungsrichter hinweisen. In den Niederlanden, die 2002 als erstes Land weltweit aktive Sterbehilfe erlaubten, steigen die Fallzahlen – genau wie in Belgien mit einer ähnlich liberalen Gesetzgebung – kontinuierlich.
Der Umgang mit Krankheit und Sterben rührt an das ethische Fundament einer Gesellschaft. Es geht darum, wonach sich der Wert eines Menschen bemisst; es geht um Freiheit und Würde – im Leben wie im Sterben – und ja, es geht auch um Nächstenliebe und Barmherzigkeit. „Die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen“, heißt es in der Stellungnahme der beiden großen Kirchen.
„Die Qualität einer Gesellschaft zeigt sich gerade in der Art und Weise, wie wir einander Hilfe und Unterstützung sind.“ Was aber ist in so existenziellen Situationen wie dem Sterben die angemessene Hilfe, und wer vermag das zu beurteilen? Ralf Meister, Bischof der Hannoverschen Landeskirche, wagte sechs Monate später in einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“, genau diese Fragen zu stellen. Mit der Einigkeit der beiden Kirchen war es daraufhin vorbei.
Der Tabubruch
Meister dachte aus der Sicht der Betroffenen und nannte es ein Tabu, „die Mitsprache über das Lebensende ausgerechnet der Person zu entziehen, die sterben muss“. Er erklärte, dass die gottgeschenkte Handlungs- und Entscheidungsfreiheit des Menschen bis ans Lebensende gelte, und jeder das Recht habe, sein Sterben mitzugestalten. Schon als Zivildienstleistender und später als Seelsorger begegnete der Bischof vielen Schwerkranken, die ihm gegenüber den Wunsch äußerten zu sterben. Viele, so Meister, seien sehr gläubig gewesen, aber trotzdem habe er sie kaum trösten können. Das hat ihn geprägt. „Unter bestimmten Bedingungen“, glaubt er, „kann der assistierte Suizid ein Akt der Barmherzigkeit sein.“
Denn dass niemand Schmerzen leiden müsse, ist eine Mär. „Im besten Fall kann man Schmerzen gut lindern“, sagt die Anästhesistin Karin Oltmann, 60, die in Hamburg ein ambulantes Palliativteam leitet. „Wir haben neben diversen Medikamenten viele weitere Möglichkeiten – von Physiotherapie über Psychotherapie bis zur Seelsorge und spezifischen medizinischen Eingriffen – damit Kranke besser mit ihren Beschwerden zurechtkommen. Aber das erfordert eine erhebliche Mitarbeit des Patienten und der Familie. Und dazu gehört auch eine Haltung.“
Die Ärztin, die täglich Kranke und Sterbende betreut, erlebt, dass es den Betroffenen hilft, wenn nicht immer das Leid im Mittelpunkt steht. Manchmal kann gemeinsame Zeit, in der man sich auf anderes konzentriert, genauso Erleichterung schaffen wie die pragmatische Reaktion: „Dein Bein tut weh, dann lagere ich dich mal anders.“ „Es geht darum, dass die Umgebung Dinge mit aushält“, glaubt die Protestantin. Und auch sie wagt einen Perspektivwechsel: „Vielleicht bekommt das Leid eines Patienten dadurch Sinn, dass Angehörige seinen Tod als Erlösung empfinden und sie das in ihrem Schmerz tröstet.“ Eine Legalisierung der Sterbehilfe, so ihre große Befürchtung, könne dazu führen, dass die Fürsorge für chronisch und schwer kranke Menschen abgebaut wird und sich die Einstellung zu einem Leben mit Krankheit insgesamt wandelt.
An Bischof Meisters Vorstoß scheiden sich auch im protestantischen Lager die Geister. Die katholische Kirche lehnt assistierten Suizid kategorisch ab. Der Schutz des Lebens habe bis zuletzt Vorrang, erklärten die deutschen Bischöfe über ihr Büro in Berlin. Sie kritisieren das Autonomieverständnis des Verfassungsgerichts als zu individualistisch und betonen, Selbstbestimmung sei immer in Beziehung zu anderen zu sehen.
Aus katholischer Sicht ist Selbsttötung eine Absage an Gott, an die Mitmenschen, aber auch an sich selbst. Noch entschiedener formuliert der Vatikan seine Ablehnung. Die Glaubenskongregation brandmarkt in ihrem Dokument „Samaritanus Bonus“ alle lebensverkürzenden Maßnahmen – auch das Herbeiführen des Todes durch das Einstellen künstlicher Ernährung – als Ausdruck einer „Wegwerfkultur“. Kranke, die um aktive Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid bitten, könnten ohne Zeichen eines Widerrufs keine Sakramente empfangen.
Schwarz-Weiß-Malerei
Norbert Heyman warnt vor solcher Schwarz-Weiß-Malerei. Er ist katholischer Theologe und plädiert dafür, dass die Kirche die Menschen weniger bevormundet und zurückhaltender in dem ist, was sie postuliert. „Wer bin ich, dass ich andere verurteilen darf?“, fragt er. Als Krankenhausseelsorger im rheinischen Würselen erlebt der 60-Jährige immer wieder Patienten, die sich den Tod wünschen, weil sie ihre Schmerzen nicht mehr ertragen oder nicht in völliger Abhängigkeit leben wollen. Heyman bringen solche Begegnungen an seine Grenzen.
„Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, dass ich versuche, die Not mit auszuhalten, den Wunsch nach einem baldigen Sterben zulasse und ihm Raum gebe“, sagt er. Für ihn kann es durchaus ein Akt der Barmherzigkeit sein, wenn man Menschen, die fest entschlossen sind, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen, die Möglichkeit dazu gibt. „Wenn Gott den Menschen zur Freiheit berufen hat, darf man sie ihm nicht einfach nehmen.“
Der Grat ist schmal zwischen Selbstbestimmung und einer entsolidarisierten Gesellschaft, die Alte und Kranke einer perfiden Leistungslogik unterwirft und damit aus dem Leben drängt. Nicht umsonst betonen katholische wie evangelische Kirchen, sie wollten Hilfe zum Leben und nicht zum Sterben leisten. Beide fordern, Palliativteams, Palliativstationen und Hospize auszubauen.
In den psychiatrischen Kliniken der „Brüder der Nächstenliebe“ in Belgien ist Sterbehilfe erlaubt. Das, berichten die Ordensleute, gebe ihnen die Chance, mit Menschen offen über deren Sterbewunsch zu sprechen. Viele würden danach davon Abstand nehmen. Nach einer Maßgabe der Glaubenskongregation darf der Orden seine Krankenhäuser allerdings nicht mehr katholisch nennen.
Text: Beatrix Gramlich; Foto: Harald Oppitz/KNA-Bild
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