Text: Pia Scheiblhuber, Fotos: Andreas Beer
„Endlich Urlaub!“, ruft Marita Böger am Altar. „Ich habe Durst“, klagt Beate Gerwinski am Nebeneingang, „Ich habe es satt!“, schreit Schwester Klara Maria Breuer im Seiten- gang. Ihre Stimmen beginnen, sich zu einem Klangteppich zu verweben. Vor jeder der drei Frauen steht eine kleine Zuschauerschar. Während sie erzählen, wird der Klangteppich immer dichter. Mal flaut er ab, mal schwillt er an, rollt durch den Kirchenraum und bereitet den Zuhörern den Weg, um alte Geschichten neu zu erleben. Es ist Bibelerzählnacht bei den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel im Bergkloster Bestwig.
Marita nimmt die Zuhörer mit zu Josef, der gerade erfahren hat, dass Maria schwanger ist. Beate erzählt, was Judith dazu führt, Holofernes zu enthaupten. Schwester Klara Maria schlüpft in die Rolle des verlorenen Sohns. Mit sieben weiteren Frauen haben sich die drei monatelang auf dieses Ereignis vorbereitet. Die Erzählnacht ist der Abschluss ihrer Bibelerzählausbildung, die das Bergkloster seit 2011 anbietet.
Eine andere Form der Verkündigung
„In der Kirche werden die Originaltexte vorgelesen und kommentiert. Bibelerzählen ist eine andere Form der Verkündigung: Es geht darum, sich die Texte anzueignen, sie aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen“, sagt Schwester Maria Ignatia Langela, die Kursorganisatorin. Als sie vor 15 Jahren in einer Broschüre des Bistums Hildesheim von den Bibelerzählkursen erfuhr, war sie sofort begeistert. Sie wandte sich an den Kursleiter, den evangelischen Pastor Dirk Schliephake, und sorgte dafür, dass auch Bestwig zur Bibelerzählerschmiede wird.
Marita, Beate und Schwester Klara Maria gestikulieren, flüstern, werden laut, setzen Pausen, lassen den Blick über ihr Publikum schweifen. Sie stehen an unterschiedlichen Orten in der von Kerzen beleuchteten Kirche und erzählen gleichzeitig ihre Geschichten. Sobald die letzte von ihnen fertig ist, ziehen die Zuhörer weiter zur nächsten Erzählstation. So hören sie an einem Abend fünf Geschichten. Nach drei Erzählungen gibt es eine Pause mit Brot und Wein. „Mal was anderes“, „schön lebendig und persönlich erzählt“, so die Reaktionen der Zuhörer.
Kein Auswendiglernen
Die Bibelerzählerinnen lernen in der Ausbildung Techniken, mit denen sie ihre Geschichten vorbereiten und verinnerlichen können. „Wir arbeiten viel mit der Storyboard-Methode“, erklärt Dirk Schliephake. „Dafür verwenden wir Szenen- karten als Gedächtnisstützen. Es geht nämlich nicht darum, den Text auswendig zu lernen!“ Der 62-Jährige legt viel Wert darauf, dass der historische Kontext jeder Erzählung gewahrt bleibt. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, müssen sich die Teilnehmer intensiv mit ihrem Bibeltext auseinandersetzen und ihn mithilfe von Bibellexika und Internetrecherchen einordnen.
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